Viele Menschen haben in den vergangenen Monaten ihre Nachbar*innen häufiger gesehen als früher. Das liegt aber nicht nur am coronabedingten Aufruf, weniger zu reisen, sondern an den oftmals nebenan abgegebenen Paketen. In Deutschland werden so viele Waren online gekauft wie nie zuvor, und besonders bei Lebensmitteln, Drogerie-Artikeln und Medikamenten werden hohe Zuwächse verzeichnet.
Neben Branchenriesen schließen sich immer mehr kleine Unternehmen zu regionalen Angebotsplattformen zusammen, Online-Shop-Anbieter wie der Softwaredienstleister Shopify vereinfachen den Web-Handel und in der Gastronomie bieten Restaurants ihre Speisen beispielsweise über Zustelldienste wie Lieferando an. Nicht überall hat die Corona-Pandemie diese Trends geschaffen, aber sie hat sie ohne Zweifel beschleunigt.
Für die Geldanlage ergeben sich dadurch viele Anknüpfungspunkte: Der Onlinehandel wächst, der klassische stationäre Einzelhandel findet Lösungen für die digitale Transformation und die begleitende Infrastruktur aus Webhosting, Warenzentren und Zahlungsabwicklern bietet weitere Anlagechancen – denn die Veränderungen sind vielfältig. So kam beispielsweise eine Shopify-Studie zur „Zukunft des deutschen Handels“ unter anderem zu folgender Erkenntnis: In Deutschland legen vor allem Jüngere beim Einkaufen Wert darauf, dass Unternehmen der Gesellschaft etwas zurückgeben oder ressourcenschonend agieren.
Umsatzangaben inkl. Umsatzsteuer im Bereich Onlinehandel/E-Commerce in Deutschland
Quelle: Bundesverband E‑Commerce und Versandhandel
Wie nachhaltig ist der Erfolg der Onliner?
Noch ist unklar, ob sich in Deutschland auch langfristig das Konsumverhalten verändern wird. Im ersten Quartal 2019 stagnierte der Umsatz mit Waren im E-Commerce zunächst, doch anschließend erlebte die Branche eine sprunghafte Nachfrage: Am Ende stieg der Umsatz 2020 verglichen mit dem Vorjahr laut Bundesverband E‑Commerce und Versandhandel (bevh) um 14,6 Prozent auf 83,3 Milliarden Euro – das waren durchschnittlich 1.000 Euro pro Person in Deutschland.
Trotz solcher Steigerungen verwies das Wirtschaftsmagazin „Economist“ jüngst darauf, dass der weltweite E-Commerce-Umsatz 2019 zwar 4 Billionen US-Dollar generiert habe, dies aber nur ein Fünftel des weltweiten Einzelhandelsumsatzes und ein noch kleinerer Bruchteil der 65 Billionen US-Dollar an Konsumausgaben war. Es dürfte in den kommenden Jahren folglich noch viele Unternehmen geben, die versuchen, dieses Umsatzpotenzial in der Online-Welt zu heben.
4 Billionen $betrug der weltweite E-Commerce-Umsatz im Jahr 2019. Ein Bruchteil der 65 Billionen US-Dollar an weltweiten Konsumausgaben.
Amazon als Platzhirsch in westlichen Industrienationen ist einerseits ein großer Gewinner im Handel und hat beispielsweise durch die Dienstleistungstochter Amazon Web Services für Cloud-Computing sein Angebot ausgeweitet. Andererseits hat die Kritik an dem Unternehmen zugenommen, unter anderem am hohem Druck für Paketausträger*innen und an Arbeitsbedingungen in den Verteilzentren, die beispielsweise in den USA auch zu hartem Streit um den Aufbau von Betriebsräten führten. Als Anlagetitel ist Amazon damit ein Beispiel für sowohl Potenziale als auch Risiken im Onlinebereich.
Das kanadische Shopify hat in der Corona-Krise viele positive Schlagzeilen in Deutschland bekommen, auch zum in Koblenz geborenen Gründer Tobias Lütke. Für Endkund*innen bietet Shopify eine komfortable und grafisch ansprechende Bestellabwicklung und für Händler*innen eine einfache Lösung, einen eigenen Shop aufzusetzen und ihr Geschäft so ins Internet zu verlagern beziehungsweise dorthin zu erweitern.
Unternehmen wie eBay oder Zalando stehen indes für ein weiteres Phänomen: Sie sind Erfolgsbeispiele schon früher Internet-Boom-Phasen, haben mit der Digitalisierung Schritt gehalten und profitieren von ansehnlichen Geschäftszahlen. Die Otto Group, die heute weit mehr als den 1949 in Hamburg gegründeten Otto-Versand umfasst, erwartet für das Ende Februar abgelaufene Geschäftsjahr allein beim Onlinehandel ein Umsatzwachstum von rund 23 Prozent auf knapp 10 Milliarden Euro.
Wie verändert sich der stationäre Einzelhandel?
Die Corona-Pandemie hat auch gezeigt, dass der Online-Erfolg nicht zwangsläufig das Aus für den stationären Einzelhandel bedeutet. Frühere reine Online-Anbieter wie Amazon setzen inzwischen auf sogenannte Omni-Channel-Strategien, in den USA gehören die Supermarktkette Whole Foods oder Geschäfte unter dem eigenen Namen mit zum Konzern. Bei anderen etablierten Händlern verändern sich Geschäftsmodelle durch Angebote wie Click & Collect oder ihren Anschluss an regionale Plattformen, um Kund*innen vor Ort enger an sich zu binden oder auf sich aufmerksam zu machen. Dabei ist zwar das nötige Warenmanagement für die Händler oft eine Hürde, aber eine Hilfe ist die Shop-Software neuer Anbieter wie Locamo, Atalanda oder Lozuka in Städten wie Siegen. Selbst Kleinstädte entwickeln individuelle Lösungen wie den lokalen Online-Marktplatz Welfenmarkt für das baden-württembergische Weingarten.
Für Anleger*innen mit kurzfristigen Renditezielen lohnt ein differenzierter Blick auf einzelne Branchen: Bekleidung und Schuhe sind bisher von der Corona-Krise besonders stark getroffen, ebenso Einkaufszentren. Dagegen sind Baumärkte, Möbelhäuser und der Lebensmitteleinzelhandel bislang gut durch die Pandemie gekommen.
Handel, ohne Händler zu sein: die Infrastruktur
Der traditionelle Einzelhandel ist noch mehr als die reinen Onlinehändler auf weitere Dienstleister angewiesen, darunter Web-Plattformanbieter, Logistiker und Zahlungsabwickler. Daraus ergeben sich zusätzliche Markt- und Anlagechancen entlang der Wertschöpfungskette: Betreiber von Lagerhallen, Speditionen oder Zahlungsdienstleister schaffen die Infrastruktur im Hintergrund für die digitale Transformation des Handels. Hierbei gibt es im Zusammenhang mit dem Wunsch vieler Anleger*innen nach mehr Nachhaltigkeit auch im Transport- und Logistikbereich noch ungelöste Fragen: Für Onlinehändler ist die Vielzahl an Retouren mit ihrem hohen Transportaufwand nach wie vor ein Problem.
Innovative Mischformen als ein Weg voran
Die weitere Entwicklung des Handels während und nach der Corona-Pandemie ist ohne Frage abhängig von den Menschen und den Branchen. Sind zum Beispiel die als besonders preissensibel geltenden Deutschen bereit, im Lebensmitteleinzelhandel für zusätzliche Services Geld auszugeben? Werden künftig noch mehr Konsument*innen in Deutschland Waren über das Internet bestellen – oder nach der kontaktarmen Zeit den Weg zurück in stationäre Geschäfte suchen?
Im Vorteil werden Unternehmen sein, denen der anspruchsvolle Spagat gelingt, Onlinekäufe mit schnellen Lieferzeiten und niedrigen Preisen mit realen Shoppingmöglichkeiten zu verbinden, die bestenfalls auch die Sinne ansprechen. Unternehmen, die eine dafür nötige hybride Infrastruktur besitzen, könnten als Profiteure aus der Corona-Krise hervorgehen.